Was ist das Tourette-Syndrom?
Das ist eine neurologische Störung, die im frühen Kindesalter ausbricht und weiter im Erwachsenenalter andauern kann. Es zeichnet sich durch das Vorhandensein von motorischen und vokalen Tics aus (Tics, von französisch tic, deutsch “nervöses Zucken”), die manchmal sehr heftig sein können. Es kommt häufig vor, dass die Betroffenen hyperaktiv sind und Zwangsstörungen haben.
Ich hatte bisher keine von dieser Erkrankung betroffenen Person kennengelernt, und alles, was ich getan habe, wurde von gesundem Menschenverstand diktiert. Als ich aber nach Hause fuhr, fragte ich mich: „Was wäre, wenn ich Dinge, die ihn eigentlich belästigt haben, getan/gesagt habe?“ Diese Frage hat mich angespornt, entsprechende Forschungen zu betreiben, deren Ergebnisse ich in diesem Beitrag niederschreibe, um euch einige Empfehlungen anzubieten, damit ihr mit der Situation umgehen könnt, falls ihr jemals mit einer solchen Person Kontakt habt. Während des Turniers bestand mein Hauptziel darin: Ich wollte KEINE spielende Person vernachlässigen! Die anderen Teilnehmenden des Turniers hatten die Situation des Jungen bemerkt und ich hätte ihm sicher ein bisschen mehr Zeit gewidmet, aber ich wollte nicht, dass sich die anderen Spielenden während des Events vernachlässigt fühlten. Beide Dinge miteinander zu vereinbaren ist wichtig, obwohl es nicht immer einfach ist.Menschen mit Tourette-Syndrom haben eine normale Intelligenz und sind sich ihres Zustandes durchaus bewusst. Das Schlimmste, das wir tun können, ist dennoch, sie so zu behandeln, als wäre dem nicht so: Obwohl sie nicht „krank“ sind, erfordert ihr Syndrom immerhin eine besondere Aufmerksamkeit. Wir als Judges sollten einige bestimmte Verhaltensmuster in die Praxis umsetzen und Maßnahmen ergreifen, die sich von denjenigen unterscheiden, die wir den anderen Spielenden bereitstellen würden, während wir die Grenzen akzeptieren und uns flexibel gegenüber den erforderlichen Anforderungen zeigen.
Neben seiner Hyperaktivität und seinem Aufmerksamkeitsdefizit hatte der Junge des Sealed-PPTQ-Turniers außerdem eine leichte Legasthenie (zur Vertiefung: Dyslexia and Judging). Ich saß neben ihm während des Deckbaus, um ihm dabei zu helfen, die Karten nach Farbe zu sortieren, während er sie langsam auf die Liste schrieb. Dieser Junge schrieb drei Karten auf, dann verflüchtete sich seine Aufmerksamkeit und er schaute sich an, was um ihn herum geschah. Er schrieb dann drei weiteren Karten auf und sah sich erneut um. Ich versuchte so taktvoll wie möglich seine Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen und sie auf das Auflisten der Karten zu richten. Ein Fehler von mir bestand darin, dass ich nicht wusste, wie ich mich der Situation stellen sollte, und ich glaubte, dass ich mit irgendeinem elfjährigen Jungen zu tun hatte, aber es war nicht der Fall: Leute mit Tourette-Syndrom haben eine unterschiedliche Denkweise und die Tatsache, dass sie vom Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom betroffen sind, bedeutet nicht, dass sie nicht konzentriert sind. Um diese Konzentration zu halten, bewegen sie sich, das ist für sie eine Konzentrationshilfe, und ich verschlechterte die Situation, indem ich ihn ablenkte.
Während des Turniers schien der Junge ruhig, aber gegen Ende der dritten Runde stand er plötzlich auf und schaute sich um, als wäre er gerade aus dem Nichts erschienen, rief laut nach seiner Mutter und bekam einen Weinkrampf, der 5 Sekunden dauerte. Gleich danach setzte er sich wieder hin und spielte weiter. Solche Ereignisse, oder Rituale, kommen bei Menschen mit Tourette-Syndrom ziemlich häufig vor. Wenn sie sich ereignen, dürft ihr sie nie aufhalten, und erweckt nicht den Eindruck, dass ihr Verhalten euch belästigt. Wenn es passiert, tut stattdessen irgendetwas Anderes: bindet eure Haare zusammen, guckt auf die Uhr, schneuzt euch oder verschickt eine SMS. Menschen mit Tourette-Syndrom wissen, dass sie diese Bewegungen nicht ausführen sollten, aber sie können es nicht erfolgreich kontrollieren.Menschen mit Tourette-Syndrom können eigentlich nicht schnell auf Veränderungen reagieren, sie setzen Bezugspunkte und bauen darauf ihre eigene vorübergehende Welt auf. Wir können weder ihre Laune vorhersehen noch wissen, ob einer ihrer Tics durch etwas, das wir gesagt oder getan haben, verursacht worden ist. Das wäre ohnehin unmöglich zu bestimmen. Um die Chancen des Auslösens von Anfällen zu verringern, empfehle ich euch, ihnen eine feste Tischnummer zuzuweisen (ebenso, wenn eine Person Bewegungsschwierigkeiten hat). Das wird ihnen dabei helfen mit dem Umfeld vertraut zu werden und sich während der Dauer des Events beruhigter zu fühlen.
Vor ungefähr einem Jahr betrat ein legasthenischer, dyskalkulischer und dysgraphischer Junge mit multipler Persönlichkeitsstörung meinen üblichen WPN-Laden. Er ist außerdem ein sehr extrovertierter Junge, der jeder einzelnen bekannten wie unbekannten Person sofort sein Vertrauen schenkt. Er neigt dazu, über alles zu reden, was ihm durch den Kopf geht, einschließlich der banalsten Themen, und er weiß vollkommen, dass seine Handlungen manchmal schwer zu ertragen sind, aber er kann diesem Impuls nicht widerstehen.
Durch unsere gemeinsamen Gespräche habe ich verstanden, dass Witze über seine Situation ihm dabei helfen, sie zu vergessen, und er ist jetzt ein fester Bestandteil der „Spielgruppe des Ladens“ und ich freue mich riesig darüber, dass er einen Ort gefunden hat, an dem er sich wohl fühlt. Kommunikation und Inklusivität sind entscheidend gewesen.
Hier sind die wesentlichen Punkte:
- Wappnet euch mit großer Geduld. Ihr Verhalten kann durch Dinge, die wir nicht einmal in Betracht gezogen haben, verursacht werden und der Versuch, dies zu verstehen, ist nicht nützlich.
- Streitet nie miteinander, seid immer freundlich.
- Schreit nicht neben ihnen, weil sie das Geräusch verstärkt hören.
- Benutzt kurze Worte und kurze Sätze und nutzt möglichst Gesten um diese zu unterlegen. Wenn ihr ihnen Anweisungen erteilen müsst, tut das auf eine einfache und klare Weise und helft ihnen dabei euch zu verstehen, indem ihr ihnen genug Zeit gebt, um darüber nachzudenken.
- Sie mögen den Körperkontakt nicht wirklich, lasst von selbst und als erstes an euch herantreten.
- Einige Betroffene können Panikattacken bekommen. Bei solchen Anfällen können wir keine Hilfe leisten, aber wir können die Situation angenehmer machen, indem wir der Person klarmachen, dass ihr Verhalten für uns keine Belästigung darstellt. Die meisten Personen haben Panikattacken, gerade weil sie wissen, dass sie Panikattacken bekommen können.
Wenn ihr 10 Minuten Pause habt, empfehle ich euch dieses TEDx-Video.
Ich danke euch, wenn ihr bis hier gelesen habt. Ich danke auch meinem Freund, dem Psychologen Mario Brecciaroli, mit dem ich mich über dieses Thema unterhalten habe, und der mir das Lesen der „Verhaltensphysiologie“ von Neil R. Carlson empfohlen hat; dieses Buch hat mir dabei geholfen, mich in dieses Thema zu vertiefen.
Dieser Artikel stammt von: Emanuele Navisse
Der Artikel wurde übersetzt von: Loïc Hervier
Redaktionelle Bearbeitung: Mathias Grontzki, Robert Wenke